Zur aktuellen Situation in Nicaragua

Bericht von einer Reise im Frühjahr 2001
von Herbert Löhr, Förderverein StädtePartnerschaft Ulm-Jinotega

Ökonomische Situation
Die Lage der Kaffeebauern
Politische Situation
Bedeutung der Gemeinden

 

Die Darstellung der nicaraguanischen Wirklichkeit, wie ich sie während meines Aufenthaltes vom 28. Januar bis zum 15. März 2001 wahrgenommen habe, erfordert zunächst eine kurze Rückschau darauf, wie sich die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse von 1990, dem Jahr der Abwahl der sandinistischen Regierung, bis heute entwickelt oder verändert haben.

Die abgelaufenen mehr als 11 Jahre werden gerne unkritisch als fruchtbare Periode der Demokratisierung des Landes bewertet, was mit scheinbar positiven Wirtschaftsdaten untermauert wird. In der Realität aber war dieser Zeitabschnitt vor allem durch ein rigides neoliberales Wirtschaftskonzept mit einem hohen Privatisierungsgrad öffentlicher Bereiche – wie Gesundheitswesen, Bildung, Energie- und Wasserversorgung – sowie der Erfüllung der von Weltbank und IWF geforderten Strukturanpassungsprogramme, die den politischen Handlungsspielraum sowohl der Regierung Chamorro als auch der gegenwärtigen Regierung Alemán drastisch eingeengt haben, gekennzeichnet.

Ökonomische Situation

Im Ergebnis bedeutet dies für die große Mehrheit der nicaraguanischen Bevölkerung, dass sich ihre Lebenssituation in jeder Hinsicht nachweisbar verschlechtert hat. Hierfür habe ich durch eigene Beobachtungen und Gespräche mit vielen Menschen eindeutige Hinweise erhalten, darüber hinaus lässt sich dies mit einem Netzwerk zuverlässiger statistischer Daten belegen.

Ich will hier jedoch nur auf einige wenige, allerdings für die Lebenswirklichkeit der Menschen sehr wichtigen Daten eingehen. Zunächst sind dabei die immer herangezogenen, scheinbar positiven Entwicklungsdaten zu durchleuchten.

Die Inflationsrate, die 1991 noch bei 856 % lag, konnte tatsächlich bis 1999 auf moderate 7,2 % zurückgeführt werden, insgesamt ergibt sich aber für den genannten Zeitraum eine Inflationsrate von 91,6 %, dem ein durchschnittlicher Einkommenszuwachs von nur 30,8 % im gleichen Zeitraum gegenüber steht. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass sich das Lebensniveau der Bevölkerung dramatisch verschlechtert hat: Denn stand 1990 dem Wert des Basiswarenkorbes von 718 Cordobas (1 DM = 6 Cordobas) ein Einkommen von 1032 Cordobas gegenüber, so hat sich 1999 das Verhältnis schon umgekehrt in 1.789 zu 1.382 Cordobas.

Eine Konsequenz aus diesem Missverhältnis ist, dass umgerechnet pro Kopf der Bevölkerung bei der Ernährung ein tägliches Kaloriendefizit von 365 kcal besteht und bei der Versorgung mit Eiweiß ein gesundheitsgefährdendes tägliches Defizit von 12 g festzustellen ist. Dies heißt im Klartext:
Ein großer Teil der Nicaraguaner leidet an Hunger und Unterernährung.

Als positiv wird auch bewertet, dass die Sozialausgaben pro Kopf der Bevölkerung seit 1990 von 57 US$ auf 80 US$ im Jahr 2000 gestiegen sind. Zur realistischen Bewertung dieses Anstieges sind aber zwei Tatsachen zu nennen, nämlich dass von den 80 US$ im Jahr 2000 jeweils 40 US$ aus Quellen ausländischer humanitärer Hilfe stammen und bereits im Jahr 1982 diese Ausgaben mit 109 US$ pro Kopf erheblich höher waren.

Als Erfolg der neoliberalen Wirtschafts- und Handelspolitik wird auch immer wieder der verhältnismäßig hohe Zuwachs des Bruttosozialprodukts, also des Gesamtwerts aller im Lande erzeugten Güter und Dienstleistungen, angeführt; er lag im Jahr 2000 bei 3,5 %. Dabei werden gerne zwei Dinge unterschlagen, nämlich dass dieser Zuwachs durch das rasche Bevölkerungswachstum in hohem Maße aufgezehrt wird.

1989 hatte Nicaragua eine Bevölkerung von 3,6 Millionen Menschen, 2000 betrug diese Ziffer bereits 5,1 Millionen. Wird dies berücksichtigt, so umfasste der Anstieg des Brittosozialprodukts im Jahr 2000 effektiv nur 0,9 %. Weiter ist dem gegenüberzustellen, dass in 2000 Ausfuhren im Wert von 534 Mill. US$ Einfuhren im Wert von 1,785 Milliarden US$ gegenüberstanden, d.h. im letzten Jahr hatte das Land ein Handelsdefizit von 1,242 Milliarden US$. Dies lässt den Anstieg des Bruttosozialprodukts zur bedeutungslosen Größe schrumpfen.

Berücksichtigt man weiter, dass das mit 6,5 Milliarden US$ (1999) hoch verschuldete Land im letzten Jahr 94,1 Mill. US$ an Schuldentilgung zu leisten hatte, so ist leicht begreifbar, dass es – abgesehen vom fehlenden politischen Willen – keine ökonomische Basis zur Lösung der dramatischen sozialen Probleme des Landes gibt.

Ich will es zur Beschreibung des wirtschaftlichen und sozialen Desasters bei diesen drei Eckpunkten belassen. Auch in anderen Bereichen der Gesellschaft finden sich keine Zahlen, die einen Hinweis auf eine Richtungsänderung der Abwärtsspirale geben.

Die Lage der Kaffeebauern

Die ökonomische Situation hat sich in der zurückliegenden Ernteperiode des Kaffees noch einmal dramatisch verschlechtert, was besonders in der Region Jinotega verheerende Auswirkungen langfristiger Natur hat. Ursache hierfür ist der extrem niedrige Kaffeepreis, der zeitweise unter 60 US$ pro Zentner lag und den Erzeugern einen Verlust von durchschnittlich 20 US$ pro Zentner Kaffee einbrachte. Durch eine grassierende Pflanzenkrankheit traten zudem gebietsweise erhebliche Ernteausfälle ein, was die Lage noch verschlimmerte. Kurzfristig hatte dies zur Folge, dass zahlreiche Kaffeebauern aufgeben mussten.

Ein weiterer negativer Effekt war der enorm hohe Anteil von Kindern in der Kaffee-Ernte, die unter menschenunwürdigen Bedingungen zu Niedrigstlöhnen helfen sollten, die finanziellen Defizite zu verringern. Bedrückende Auswirkung des schon seit Jahren festzustellenden Einsatzes von Kindern in der Kaffeeproduktion ist eine Analphabetenrate von bis zu 60 % in Teilen der Region Jinotega.

Politische Situation

Neben der wirtschaftlichen Misere bietet auch das politische Szenario ein krisenhaftes Bild. Von einer Demokratisierung, die diesen Namen verdient, ist das Land weit entfernt .Der autoritäre Führungsstil des Präsidenten Alemán nimmt wenig Rücksicht auf die Verfassung und hat demokratische Institutionen schwer beschädigt. Der politische Pakt zwischen Daniel Ortega von der FSLN und Arnoldo Alemán von der Liberale Partei hat dieser Entwicklung Vorschub geleistet und die politische Kultur des Landes in Verruf gebracht Die ausufernde Korruption bis in höchste Regierungskreise tut ihr Übriges, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die politische Klasse weiter zu untergraben und schwächt demokratische Entwicklungsansätze.

Die Regierung Alemán hat abgewirtschaftet und ernst zu nehmende Untersuchungen räumen der FSLN gute Chancen ein, aus den allgemeinen Wahlen am 3. November 2001 als Sieger hervorzugehen. Ob eine erneute Präsidentschaft von Daniel Ortega mit einem tief greifenden politischen Wandel verbunden wäre, die der verarmten Bevölkerung eine Zukunftsperspektive geben würde, ist schwer vorhersehbar. Die USA haben ihrer "Besorgnis" über einen möglichen Wahlsieg Ortegas jedenfalls schon mit bedeutungsvollen Kommentaren Ausdruck verliehen.

Unter den geschilderten Bedingungen hat die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen weiter an Bedeutung zugenommen und ist in weiten Bereichen für zahlreiche Menschen überlebenswichtig; sie sind oft der einzige Sachwalter ihrer Interessen. Vor diesem Hintergrund kann über die Arbeit des Bildungsprojekts "La Cuculmeca" in Jinotega als einem positiven Beispiel aus der nicaraguanischen Wirklichkeit berichtet werden.

Bedeutung der Gemeinden

Zuletzt soll noch ein anderer wichtiger positiver Aspekt Erwähnung finden. Es ist die Tatsache, dass die Gemeinden unabhängig von ihrer politischen Position in einem sehr dynamischen Prozess dabei sind, die in der Verfassung vorgesehene relative Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Managua endlich einzufordern und für ihre Gemeinden durchzusetzen Dahinter steht die Erkenntnis vieler Menschen, dass sie auf absehbare Zeit von der hohen politischen Ebene nichts zu erwarten haben und sie ihre Probleme vor Ort selbst lösen müssen. Ihre gewählten Gemeindevertreter fordern jetzt die hierzu erforderlichen, in der Verfassung vorgesehenen politischen und finanziellen Instrumente.

Zum Schluss ein Zitat aus Nicaragua:
"Wenn Nicaragua eine Zukunft haben soll, dann darf weder das Vergangene noch das Gegenwärtige eine Fortsetzung finden. Wenn wir versuchen, auf diesen Grundlagen unsere Zukunft zu errichten, werden wir scheitern. Und der Preis dieses Scheiterns wird die Finsternis sein."

Herbert Löhr, 16. Mai 2001

 

Statistische Quellen:

Oscar-Rene Vargas , Pobreza en Nicaragua, Un abismo que se agranda. Managua Okt.1999

Oscar-Rene Vargas, Once anos despues del ajuste. Managua März 2001