Jinotega nach dem Wirbelsturm "Mitch"
- und die Bedeutung des Bildungszentrums

Bericht von Herbert Löhr, Förderverein StädtePartnerschaft Ulm - Jinotega


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Am 30. Dezember 1998 habe ich nach vierwöchigem Aufenthalt Nicaragua oder - genauer gesagt - die Region Jinotega im nördlichen Teil des Landes, die vom Wirbelsturm "Mitch" besonders hart betroffen war, wieder verlassen. Zu diesem Zeitpunkt wurden von der Zentralbank des Landes die Auswirkungen der Naturkatastrophe mit folgenden Zahlen dargestellt (regierungsamtliche Feststellungen lagen zu diesem Zeitpunkt verbindlich nicht vor):

Landesweit waren 870.000 Menschen (18,2 % der Gesamtbevölkerung) von den Einflüssen des Wirbelsturms betroffen, sei es durch den Verlust des eigenen Lebens, des Lebens von Angehörigen, den Verlust der Wohnstätten, der Ernten, des Bodens oder anderer Güter. Die vorläufige Zahl der Toten wurde mit 2.400 Personen, darunter zahlreichen Kindern, angegeben. Die nicaraguanische Zivilverteidigung spricht sogar von 2.863 Todesopfern. Es ist zu erwarten, dass sich die Zahl der Toten noch erhöhen wird, da aus besonders entlegenen Gebieten - wie der Zone des nördlichen Grenzflusses Rio Coco, einem der Hauptsiedlungsgebiete indianischer Ethnien - bis Ende Dezember noch keine oder nur sehr ungenaue Nachrichten über das Schadensausmaß vorlagen. Im gesamten Nicaragua wurden 145.000 Wohnstätten berührt, das heißt 17 % des gesamten Bestandes; 31.750 dieser Wohnstätten wurden total zerstört. Darüber hinaus gingen 90 Gesundheitszentren, überwiegend im ländlichen Raum, und 343 Schulen verloren. Im Straßennetz des Landes wurden 8.000 km zerstört, der Verlust an Brücken beträgt 42.

Der materielle Schaden wird mit insgesamt 1,5 Milliarden US-Dollar beziffert. Vergleichsweise entspricht diese Summe dem 4,3fachen Wert aller Warenausfuhren, die Nicaragua 1994 getätigt hat.

Auf das Departamento Jinotega bezogen umfasst das Ausmaß der Schäden: 50 Tote, 38.000 materiell geschädigte Personen (bei einer Gesamteinwohnerzahl von 180.000). Die Ernten von Mais, Bohnen und Gemüse sind gebietsweise bis zu 80 % vernichtet, bei Kaffee wurden Verluste bis zu 30 % gemeldet. Besonders stark wurde die Stadt Wiwilí im Norden des Departamentos heimgesucht. Das extreme Hochwasser des Rio Coco hat diese Stadt mit etwa. 9.000 Einwohnern zu 90 % zerstört. Bei diesen Angaben ist zu berücksichtigen, dass der Anteil von in extremer Armut lebenden Menschen in der Region Jinotega zu den höchsten des Landes zählt.

Die bloßen Zahlen geben allerdings in keiner Weise das tatsächliche Ausmaß der Naturzerstörungen wieder, die mancherorts apokalyptische Ausmaße erreicht hat und Landschaften bleibend veränderte. Selbst Waldgebiete, die keine ökologischen Vorschädigungen aufwiesen, zeigen jetzt durch Erdrutsche verursachte Wunden, bei deren Anblick es unvorstellbar ist, dass sie jemals wieder ausheilen könnten. Flüsse haben für immer ihren Lauf geändert, durch Sand- und Geröllablagerungen ihrer Hochwasser ging in den Flussauen hektarweise wertvolles Ackerland verloren. Zahllose Stein- und Schlammlawinen in den steilen Hanglagen des nördlichen Berglandes haben weitere unwiederbringliche Verluste von Anbauflächen verursacht. Das heißt: Die Nachwirkungen der beschriebenen Schäden werden weit in die Zukunft reichen.

Kurz- und mittelfristig muss mit massiven Engpässen in der Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln Mais, Bohnen und Reis gerechnet werden. In den Gebieten, in denen die Bevölkerung überwiegend in Subsistenzwirtschaft lebt, sind Hungersnöte zu befürchten. Langfristige Auswirkungen hat der große Verlust an Anbauflächen, ein Problem, dem gegenwärtig mit allgemeiner Rat- und Hilflosigkeit begegnet wird. Bei Preisen von 1.000 bis 1.500 US-Dollar für eine manzana Ackerland (1 manzana entspricht 0,7 Hektar) bedeutet dies für zahlreiche bäuerliche Existenzen das Ende.

Es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Folgen des Desasters die ohnhehin schon starke Landflucht spürbar verstärken werden. Überdies besteht die Gefahr, dass es im Zuge von Landbeschaffungsmaßnahmen wieder zu langandauernden Konflikten kommt, die durch politische Übereinkünfte gerade erst einigermaßen überwunden schienen. Mit Sicherheit wird jedoch der Siedlungsdruck auf die jetzt noch unberührten Naturreservate wachsen und die Geschwindigkeit der Waldvernichtung in Nicaragua beschleunigen (zum Beispiel im Biosphärenreservat Bosawas im Departamento Jinotega).



Bedauerlicherweise ist bis heute nichts von einem nationalen Wiederaufbauprogramm bekannt. Ansätze für eine dringend notwendige Raumordnungsplanung fehlen bislang ebenso wie staatliche Pläne für die Wiederherstellung der vielen zerstörten Entwicklungsprojekte. Augenblicklich besteht eher der Anschein, als würde das politische und menschliche Versagen der Regierung Alemán, so wie es schon in den Tagen der Katastrophe offenbar wurde, eine Fortsetzung finden. Was bewirken in dieser Situation die bemerkenswert hohen Spendenaufkommen zahlreicher Solidaritätsgruppen, Städtepartnerschaften und Patenschaften zu nicaraguanischen Basisprojekten? Was kann konkret das Projekt "La Cuculmeca" mit den Spendengeldern aus Ulm, Tübingen, Solingen und anderen Orten der Bundesrepublik Deutschland in der Region Jinotega bei der Beseitigung und Linderung der katastrophalen Schäden leisten? Eine erste Antwort liegt in der Tatsache, dass "La Cuculmeca" im Verbund mit dem Hilfskomitee der Bürgerschaft Jinotegas bis in den Dezember 1998 hinein ca. 90 Tonnen Hilfsgüter in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung, Medikamenten, Saatgut und Werkzeug in den besonders betroffenen Gemeinden La Concordia, La Fundadora, El Cua und Wiwilí verteilt hat. Die Finanzierung dieser Aktionen erfolgte größtenteils aus Spendengeldern, die aus den genannten Städten stammen.

Mitch
Gegenwärtig werden im Rahmen der Arbeit von "La Cuculmeca" Pläne entwickelt, die festlegen sollen, in welcher Weise, in welchem Umfang und an welchen Orten der Bildungsverein Kleinprojekte zur Wiederherstellung landwirtschaftlicher Produktion, zur Instandsetzung von Wasserleitungen, zum Wiederaufbau von Schulen und zur dringend notwendigen Wiederaufforstung gemeinsam mit anderen lokalen Partnern durchführen kann. Auch diese Maßnahmen werden aus den zur Verfügung gestellten Spendenmitteln finanziert. Von besonderer Bedeutung ist die zur Zeit stattfindende Bildung einer Arbeitsgruppe von qualifizierten Fachleuten, die den durch die Katastrophe traumatisierten Menschen psychologische Hilfe anbieten soll. Nach meiner Kenntnis ist zumindest in der Region Jinotega der Verein "La Cuculmeca" die einzige Institution, die sich dieser Aufgabe zuwendet.

Alle diese Aufgaben bedeuten für "La Cuculmeca" eine erhebliche Ausweitung seines Tätigkeitsbereichs und - damit verbunden - ein starker Zuwachs an Arbeit. Angesichts dieser Herausforderungen ist es notwendiger denn je, mit dem Bau des seit zwei Jahren geplanten Bildungszentrums in Jinotega in nächster Zeit zu beginnen, um damit die Arbeitsmöglichkeiten für die 18 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gruppe zu verbessern und das Projekt "La Cuculmeca" zu konsolidieren bzw. dauerhaft abzusichern. Denn mit der Realisierung dieses Vorhabens verbindet sich auch die begründete Hoffnung, dass langfristig die Basis für eine Selbstfinanzierung der Projektarbeit geschaffen wird. Zunächst stellt allerdings auch dieses Vorhaben eine weitere Herausforderung für alle Beteiligten dar und verlangt die Ausschöpfung aller Hilfsquellen.